ALS verändert alles 

Wenn Leben nur noch mit Hilfe möglich ist 

Anfang 2022 sagten Fachärzte im UKE, die Ursache meiner seit 2020 zunehmenden Symptome sei jetzt klar: „Ja, Sie haben ALS (Amyotrophe Lateralsklerose)“. Die Ursache meiner Krankheit ist nicht bekannt, ALS ist nicht heilbar und führt innerhalb weniger Jahre zum Tod.

Ich bin Tilman Holweg, lebe zusammen mit meiner Frau Anja im südlichen Schleswig-Holstein, rund 40 Kilometer von Hamburg entfernt. Der gesichteten Diagnose „ALS“ ging ein zwei Jahre dauernder, zermürbender Untersuchungsmarathon voraus.

Heute wäre mir ein Leben ohne 24stündige NIV-Beatmung und ohne künstliche Ernährung über meine PEG-Magensonde nicht möglich. 24 Stunden am Tag, an 365 Tagen im Jahr, stellen seit Herbst 2022 speziell qualifizierte Pflegekräfte meine Versorgung im Rahmen der Außerklinischen Intensivpflege sicher.  

Leben mit Außerklinischer Intensivpflege

Alltägliche Dinge, die einmal selbstverständlich waren, werden für mich nach und nach immer mühsamer. Hilfe von Menschen, zahlreiche medizinische Hilfsmittel und Maßnahmen wie Beatmung oder Sondenernährung halten mich heute am Leben. Laufen, Treppensteigen, Anziehen, Waschen, Essen, Trinken, Sprechen, Atmen - eine Fähigkeit nach der anderen schwindet. Das sensorische Empfinden, also Tastsinn und Temperaturempfinden, Schmecken, Riechen, Hören und Sehen, bleibt erhalten. Auch Bewusstsein und Denkvermögen sind nicht in Mitleidenschaft gezogen. Im Krankheitsverlauf können sich ALS- Betroffene ihrer Umgebung nicht mehr durch Sprechen mitteilen, obwohl sie im Kopf vollkommen klar sind. 

ALS bedeutet für mich, fortlaufend Bedürfnisse zu reduzieren, auf vieles zu verzichten und unendlich viel Geduld mit mir selbst und mit anderen aufzubringen. Ganz plötzlich erscheint mir das, was früher normal war, kostbar und erstrebenswert. Der Verlust meiner Selbstständigkeit, meiner Privatsphäre und das ständige Abschiednehmen von alltäglichen Selbstverständlichkeiten sowie das Anpassen an immer neue Situationen, haben mir klar gemacht, wie wertvoll mein Leben vor ALS war.

Grundsätzliche Fragen, die wir uns nach meiner ALS-Diagnose stellten, z.B. was wir in der verbleibenden Zeit bis zu meinem Tod möchten und was nicht, waren für meine Frau und mich nicht neu: Rund zwanzig Jahre zuvor mussten wir bereits für unsere Tochter Deike entscheiden, ob wir pflegefachlich-menschliche und lebensverlängernde technische Hilfe wollen oder nicht. Wir entschieden uns bewusst für das Leben, damals bei Deike und rund zwanzig Jahre später bei mir. Auch wenn lebensverlängernde Maßnahmen Lebensqualität steigern können, so stellten wir uns bei Deike und stellen wir uns bei mir immer wieder die Frage, wann der individuell richtige Zeitpunkt ist, auf lebensverlängernde Maßnahmen zu verzichten und auf Palliative Versorgung zu wechseln.

Rückblick: Ein Geburtsstillstand mit schwerer Hypoxie schädigte Deikes Gehirn damals so sehr, dass sie zum Leben bald Beatmung und Außerklinische Intensivpflege brauchte. Zum Zeitpunkt als klar war, dass ich ALS habe, war unsere 2001 geborene Tochter bereits mehr als zwanzig Jahre rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen. Ärzte  schlossen nach Deikes Geburt unzählige andere Krankheiten aus. Auch spätere genetische Untersuchungen sowohl bei Deike als auch bei mir, waren gänzlich unauffällig.

Wir erlebten, wie viele fröhliche Momente es mit Deike gab, trotz kompletter Abhängigkeit. Durch Deike habe ich gelernt, dass die Lebensqualität bis zum Tod auch viele Gesichter haben kann. Vertraute Menschen konnten mit Deike kommunizieren, sie verstanden ihre besondere „Sprache“ mit Gestik, Mimik und mit ihren Augen. So konnte Deike bis zu ihrem Tod im April 2023 überwiegend „sagen“ was sie mochte und wollte oder was nicht. Diese enorme Lebensfreude unserer unglaublich starken Tochter Deike gab mir Kraft und Mut, mich auch für Hilfen wie Außerklinische Intensivpflege mit Beatmung zu entscheiden. Gleichzeitig ist mir natürlich klar, dass ALS tödlich enden wird. Den Zeitpunkt, wann ich keine Lebensverlängernden Maßnahmen mehr wünsche, behalte ich mir vor. 

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