Über Umwege zur Diagnose ALS

Noch bevor es bei mir um ALS ging, fühlte ich mich Anfang 2019 schlapp, bekam Fieber und Luftnot. Mein Hausarzt stellte eine Lungenentzündung fest. Dank eines Antibiotikums heilte die Lungenentzündung zügig. Und dann im Juni des selben Jahres ein riesengroßer Schreck: Ich hatte ganz plötzlich auf beiden Augen jeweils im linken Gesichtsfeld für 10 Minuten eine Blindheit (eine beidseitige Halbseitenblindheit, auch beidseitige Hemianopsie genannt). So plötzlich wie die Blindheit kam, ging sie ebenso plötzlich wieder weg, zum Glück. Ein zeitnah gemachtes MRT des Gehirns und der Sehbahnen zeigte keine bleibenden Schäden. Um künftig die Bildung von gefährlichen Blutgerinnseln zu verhindern, bekomme ich seit damals Blutverdünner. Diese rasch vorübergehende Durchblutungsstörung (TIA) hat nichts mit ALS zu tun.

Im Herbst 2019 war ich wieder schnell erschöpft, immer öfter zitterten die Muskeln der Beine, der Hausarzt meinte, dass Magnesium helfen könnte. 2020 bekam ich schon bei geringster Belastung Luftnot, Muskelkrämpfe in den Beinen verursachten starke Schmerzen. Also ging ich wieder zu meinem Hausarzt, dieser überwies mich an eine Rheumatologin, später an einen Pneumologen und noch später an eine Neurologin. Es folgte ein Diagnosemarathon, erst ambulant bei mehreren Fachärzten, dann stationär mit zahlreichen Krankenhaus- Aufenthalten. 

Wegen meiner Luftnot wurde ich 2020 im Krankenhaus in Pinneberg, später im Hamburger UKE umfangreich untersucht. Der Fokus lag damals auf der Lunge. Sowohl im März 2020 als auch sieben Monate später, im Oktober 2020, wurde bei Bronchoskopien in der Spülflüssigkeit eine Lymphozytäre Alveolitis nachgewiesen. Den Auslöser der Alveolitis fanden die Spezialisten trotz intensiver Suche nicht. Eine Alveolitis hat ebenfalls nichts mit ALS zu tun.

Lange vermuteten die Ärzte, eine seltene Lungenerkrankung oder eine Autoimmunkrankheit müsse Auslöser meiner fortschreitenden Atem-Beschwerden sein. Die jetzt fachgebietsübergreifende Suche nach der möglichen Ursache erstreckte sich schließlich auf meinen ganzen Körper. Zahlreiche CTs, MRTs und unendliche viele Blutabnahmen blieben ohne wegweisenden Befund. Auch eine Biopsie des Lungengewebes und von Lymphknoten brachte keine neuen Erkenntnisse. Monate vergingen, eine Krankheit nach der anderen wurde ausgeschlossen.

Ärzte hofften im Jahr 2020 durch den siebenmonatigen Einsatz von hochdosierten Cortison die Lungenfunktion verbessern zu können, sie versuchten so die Alveolitis in den Griff zu bekommen. Aber auch dieser Versuch blieb ohne Besserung. Der unangenehme Nebeneffekt des Cortisons war eine sehr starke Gewichtszunahme. Nach dem Ausschleichen und Absetzen des Cortisons normalisierte sich mein Körpergewicht innerhalb von Monaten. Aber die Alveolitis blieb.

2017 waren meine Bewegung und Kraft noch normal. Gehen, Laufen, Essen, Trinken, Radfahren und normales Sprechen - die alltäglichen Dinge des Lebens sind ein großes Geschenk, dass ich erst rückblickend richtig zu schätzen weiß.

2020 bekam ich wegen der Lymphozytären Alveolitis und der Luftnot sieben Monate lang Cortison. Die Folge: eine starke Gewichtszunahme. Nach dem Ausschleichen des Cortisons normalisierte sich mein Gewicht innerhalb eines Jahres.

Jahre später, 2023/2024: Häufiges Verschlucken reduzierte meine Nahrungsaufnahme. Innerhalb von 10 Monaten verlor ich ALS-bedingt 22 Kilo. Nach Anlage der PEG stoppe spezielle Sondenkost meinen Gewichtsverlust.

Eine Krankheit nach der anderen wurde ausgeschlossen

Eine pneumologische Reha Anfang 2021 brachte auch keine Besserung der Luftnot. Die vom UKE angeregte Zweitmeinung durch die Lungenklinik Großhansdorf brachte ebenfalls kein wegweisendes Ergebnis. Alle fächerübergreifend beteiligten Ärzte waren sich jetzt einig, dass die nachgewiesene Alveolitis allein diese ausgeprägte und fortschreitende Abnahme der Lungenfunktion nicht verursachen könne, weswegen die Suche nach möglichen Ursachen weiter ging. Ärzte der speziellen Lungenklinik empfahlen aber eine nochmalige umfangreiche neurologische Untersuchung. 

Bei weiteren stationären und ambulanten Untersuchungen zeigte sich eine Zwerchfell-Lähmung, erst einseitig, später beidseitig. Das Zwerchfell ist der für die Einatmung wichtigste Atemmuskel, der die Ruheatmung weitgehend allein übernimmt. Wegen der sich immer weiter verschlechternden chronischen ventilatorischen Insuffizienz passten die UKE-Pneumologen im April 2021 eine NIV-Beatmung an. Zunächst brauchte ich sie nur nachts, heute brauche ich die Beatmung rund um die Uhr. Obwohl die Ursache für die Lähmungen der Atemmuskulatur damals noch unbekannt war und trotz der Lymphozytären Alveolitis, entschieden sich die Ärzte mit mir für die Behandlung mit einer NIV-Beatmungstherapie.

Ohne Pause kamen weitere Symptome hinzu, mit dem linken Fuß bleib ich öfter hängen, die Muskeln in den Beinen verkrampften sich und zitterten immer öfter. Im weiteren Verlauf bemerkte ich eine sich ausbreitende muskuläre Schwäche, erst in einem Fuß und dann in beiden Füßen. Nach mehreren Stürzen kristallisierte sich eine Fußheberschwäche heraus, später kam eine Schwäche der Beine, der Hände und Arme hinzu. Schnell war ich auf einen Rollator angewiesen. 

Wegen heftiger Muskulschmerzen verschrieben die Ärzte das Schmerzmittel Metamizol. Plötzlich stiegen meine Leberwerte inbedrohlicher Intensität an. Der Hausarzt meinte, dass ich sofort ins Krankenhaus müsse. Über die Notaufnahme des UKE kam ich zu den Leberspezialisten der Uniklinik. Nach CTs, MRTs und einer Leberbiopsie stand der Auslöser für die schwere Hepatitis fest: Ich habe eine Allergie gegen das Schmerzmittel Metamizol. Nach deren Absetzen verheilte die Hepatitis vollständig. Heute erhalte ich andere Medikamente zur Entspannung verkrampfter und schmerzhafter Muskulatur. 

Im Herbst 2021 folgte ein weiterer 10-tägiger Aufenthalt im UKE, diesmal in der Neurologie. Die umfassende neurologische Untersuchung schloss weitere Krankheiten aus. Zu den langwierigen Untersuchungen gehörten die Elektromyographie, Elektroneurographie, motorisch-evozierte Potentiale, Liquorpunktion, unendlich viele Blutabnahmen und eine Muskelbiopsie sowie MRT des Schädels und vom Rückenmark. Auch genetische Untersuchungen waren bei mir gänzlich unauffällig. Dann zeigte sich eine Spur: Ärzte äußerten erstmals den Verdacht, dass es sich um eine Motoneuronerkrankung handeln könnte. Anfang 2022 bekamen meine Frau und ich abschließende Klarheit: Die Neurologen waren sich jetzt sicher, dass es ALS ist, Ursache unbekannt.

Auch wenn ich stark beeinträchtigt bin, so bin ich doch dankbar für die Dinge, die ich noch kann. Ich lebe eben gerne, auch mit menschlicher und technischer Hilfe. 

Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine schwere, nicht heilbare Erkrankung des motorischen Nervensystems. Bei ALS verlieren die motorischen Nervenzellen, die für die willkürliche Steuerung der Muskulatur verantwortlich sind, fortschreitend ihre Funktion. Der Abbau von Nervenzellen (Neurodegeneration) stellt sich bei meiner ALS vor allem durch eine beidseitige Zwerchfelllähmung mit ventilatorischer Insuffizienz dar, dazu kommen Kraftminderung und Muskelschwäche, Muskelschwund und z.T. schmerzhafte Steifigkeit der Muskeln. Der Nervenzellverlust hat bei mir zur Folge, dass die Mobilität meiner Hände, Arme, Beine sowie des Rumpfes und der Zunge durch die Krankheit eingeschränkt ist. Durch Verschlucken mit Aspiration habe ich zwei weitere Lungenentzündungen gehabt, die rechtzeitig mit einem Antibiotikum zuhause behandelt wurden. Um schmerzhafte Spastiken zu reduzieren, helfen Muskelrelaxanzien zur Entspannung der Muskulatur und Schmerzmittel. Nicht betroffen von der ALS sind meine Körperwahrnehmung und Sinneswahrnehmungen (Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Gleichgewichtssinn, Tastsinn). Auch die Herzmuskulatur und die Kontrolle von Urin und Stuhl bleiben unberührt. Im fortgeschrittenen Krankheitsverlauf kann es zur vollständigen Lähmung der Skelettmuskulatur kommen. ALS ist nicht heilbar aber durch Physio- und Atemtherapie, durch Logopädie und Ergotherapie und durch Medikamnte können Symptome gelindert werden.

Die ALS verläuft bei jedem Patienten unterschiedlich. Durch Muskelschwund und schmerzhafte Verkrampfungen der betroffenen Extremitäten sind diese bei mir gelähmt, weswegen ich auf technische Hilfsmittel, wie zum Beispiel Elektro- Rollstuhl oder Patientenlifter angewiesen bin. Bei meinen oberen Extremitäten sind das Heben, Tragen, Schreiben, Schneiden, Essen, der Toilettengang und die Körperpflege fortschreitend stark beeinträchtigt, weswegen ich in fast allen Lebenslangen auf technische und fachliche Hilfe angewiesen bin. Bei mir entstanden ebenfalls eine Sprech- und Schluckstörung („bulbäre Symptome“). Ich habe zwischen Dezember 2023 und November 2024 nochmals 22 Kilo abgenommen. Es ist für ALS-Betroffene wichtig, dass wir nicht übermäßig an Gewicht verlieren. Eine sehr kalorienreiche, möglichst fetthaltige Ernährung ist vorteilhaft, da sich ein höheres Körpergewicht positiv auf den Krankheitsverlauf auswirkt. Meine Ernährungssonde, die PEG, stellt heute eine ausreichende Ernährung mit Sondenkost sicher. Meine Maskenbeatmung benötigte ich bereits seit April 2021, zunächst nur nachts, heute rund um die Uhr.

Die mittlere zu erwartende Lebenszeit von Menschen mit ALS beträgt nach der Diagnosestellung 3 bis 5 Jahre. Die statistischen Angaben beziehen sich auf den Krankheitsverlauf ohne Berücksichtigung von lebensverlängernden Behandlungsoptionen, wie die Beatmung rund um die Uhr und Ernährung mit Sondenkost über die PEG. So kann eine Lebenszeitverlängerung bis hin zu vielen Jahren erreicht werden, abhängig von den eingesetzten Behandlungsverfahren und vom individuellen Krankheitsverlauf.

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