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Das Schweigen der Ärzte

Deike war seit ihrer Geburt im Sommer 2001 mehrfach schwerstbehindert und seit damals an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen. Durch ein tolles Team von examinierten Fachpflegekräften und durch unsere Pflege zuhause wurden Deike mehr als 21 besondere, überwiegend fröhliche Lebensjahre geschenkt. Hilfsmittel wie Beatmungsgerät, Absaugung und Monitor waren seit vielen Jahren ständiger Begleiter. Deike war ihr Leben lang, bis zu ihrem Tod, auf intensive Hilfe angewiesen. Ein vermeidbarer Geburtsschaden veränderte Deikes Leben von Anfang an. 

Wir, die Eltern von Deike, vereinbarten damals rechtzeitig bevor unsere Tochter an einem Augusttag 2001 zur Welt kam Chefarztbehandlung. Zur größten Sicherheit suchten wir eine Hamburger Geburtsklinik auf, die den Standard der Maximal-Versorgung versprach. Tatsächlich war aber kein einziger Facharzt zur Geburt von Deike anwesend. Obwohl es am Tage der Geburt - es war ein Sonntag - Komplikationen gab, erschien nicht der Professor im Kreißsaal, die Betreuung übernahm stattdessen eine unerfahrene und unbeaufsichtigte Ärztin im Praktikum.

Deike erlitt damals einen durch die Berufsanfängerin nicht erkannten Geburtsstillstand. Während ihrer Geburt wurde Deikes Gehirn mit zu wenig Sauerstoff versorgt. Als sie geboren wurde, war sie vollkommen schlaff und schneeweiß. Die Folge dieser Sauerstoffunterversorgung war ein schwerster Hypoxischer Hirnschaden. Und dieser Hirnschaden war die Ursache für ihren Gesundheitszustand bis zu ihrem Tod.

Nachdem zur Geburt von Deike die vereinbarte Chefarztbehandlung nicht stattfand, sondern nur eine Ärztin im Praktikum anwesend war, suchten wir das Gespräch mit dem Professor, bekamen aber nie eine Antwort.

Wir nahmen uns schließlich einen Anwalt und klagten für unsere Tochter. 

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Deike war ihr Leben lang auf Hilfe angewiesen 

Vor dem Landgericht Hamburg scheiterten wir und legten Berufung ein. Das Hanseatische Oberlandesgericht wies unsere Berufung ab, ohne mündlich zu verhandeln, per Beschluss nach § 522 ZPO (alt), endgültig, für immer. 

Dass aber Beweise und positive ärztliche Privat-Gutachten vorlagen, fand keinerlei Beachtung.

Wir fanden es ungerecht, dass Gerichte Berufungsprozesse auf dem Wege der Beschluss-Zurückweisung beenden konnten, obwohl entscheidende Fragen gar nicht geklärt wurden. Gerichts-Entscheidungen nach § 522 ZPO waren unumstößlich, sie wurden nicht mehr durch eine höhere Instanz überprüft. So wollte es das Gesetz aus dem Jahr 2002. Die Absicht des Gesetzgebers war damals eine Entlastung der Gerichte. 

Ich entschloss mich dazu, gegen dieses aus unserer Sicht ungerechte Gesetz mit sachlichen Argumenten zu kämpfen.

Hätte der Professor behandelt und nicht die unerfahrene Ärztin in Ausbildung, dann wäre die Notlage für unsere Tochter rechtzeitig erkannt worden und Deike hätte ein normales Leben leben können.

Bis 2011 wurde in Deutschland in zivilen Berufungsverfahren immer öfter ohne jede mündliche Verhandlung, nur durch den schnellen Gerichtsbeschluss, entschieden. Ein Urteil im Namen des Volkes, mit dem eine Revision beim Bundesgerichtshof (BGH) möglich gewesen wäre, gab es auf diese Weise nicht mehr. Ungerecht! Denn, für die Einen war der Weg zum BGH versperrt (auch für Deike) und für andere stand er offen.

Obwohl ein von uns bei Gericht vorgelegtes ärztliches Gutachten ursächliche und vermeidbare Arztfehler bei Deikes Geburt unmissverständlich bestätigte, obwohl Chefarztbehandlung vereinbart war und nicht erbracht wurde, wurde Deikes Fall von den Hamburger Richtern abgewiesen ohne jemals dem Bundesgerichtshof diesen Fall zu Überprüfung vorstellen zu können.

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Deike bewegte den Deutschen Bundestag

Eine wirksame Beschwerde der gerichtlichen OLG- Entscheidung beim BGH wurde durch willkürliche Auslegung des § 522zpo dauerhaft verhindert. Immer öfter hatten Patienten so das Nachsehen, immer öfter siegte in Deutschland das Recht des Stärkeren. 

Wir gaben nicht auf, zogen für Deike vor das Bundesverfassungsgericht.

Die Karlsruher Verfassungsrichter befanden, dass Beschluss-Zurückweisungen nach § 522 ZPO (alt) der Verfahrensbeschleunigung dienten und diese der effektiven Nutzung justizieller Ressourcen dienen würden. Das Interesse an einer möglichst baldigen rechtskräftigen Entscheidung sei dem Gesetzgeber ein wesentliches Anliegen gewesen. Auch zwängen die Besonderheiten eines Arzthaftungsprozesses von Verfassungswegen nicht dazu, von einer Zurückweisung der Berufung durch Beschluss Abstand zu nehmen. Für eine solche Einschränkung des Anwendungsbereichs der verfassungsgemäßen Vorschrift böten schon Wortlaut und Gesetzesbegründung keinen Ansatzpunkt. (1BvR 1525/08)

Der Gesetzgeber eröffnete mit diesem Gesetz aus 2002 Zivilgerichten Tür und Tor sich ohne großen Aufwand von arbeitsreichen und unbequemen Fällen für immer entledigen zu können. Gerade in komplizierten Arzthaftungssachen wurde der alte Paragraf 522 ZPO damals immer öfter angewendet. 

Keiner dieser durch schnellen Beschluss abgelehnten Fälle wurde jemals wieder überprüft - so wollte es der Gesetzgeber. 

Auch nach der Ablehnung durch die Verfassungshüter gaben wir nicht auf, wir kämpften weiter. 

Das beschriebene Gerechtigkeitsdefizit in komplexen Streitigkeiten, insbesondere in Arzthaftungssachen, das wir anhand des Falls Deike jetzt öffentlich machten, führte nach und nach zu einem politischen Umdenken, Partei- übergreifend.

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Plötzlich fand unsere Gesetzesinitiative Gehör

Ich veröffentlichte Petitionen zur Mitzeichnung, nahm Kontakt zu 
Bundespolitikern auf, führte unendlich viele sachliche Gespräche. Nach anfänglicher Ablehnung teilten immer mehr Politiker aller damaligen Bundestagsfraktionen (CDU, SPD, Grüne, die Linken und die FDP) meine Auffassung von Gerechtigkeit.

Schließlich wurde ich zu einer Anhörung in den Deutschen Bundestag eingeladen, wo ich den Fall meiner Tochter Deike einem Fachpublikum öffentlich vorstellte.

Später organisierte und veranstaltete ich auf eigene Kosten, eine von der Fachwelt und der Presse vielbeachtete und hochrangig besetzte Diskussionsrunde in Hamburg. Mir gelang es, eine mit namhaften BGH-Anwälten, Richtern und Bundes-Politikern besetzte öffentliche Podiumsdiskussion in Hamburg zu veranstalten, zu der auch die damalige 
Bundesjustizministerin den Referatsleiter "Zivilprozess" auf unser Podium nach Hamburg entsandte. Moderiert hat unsere Veranstaltung ein guter Freund von uns, ein ehemaliger NDR-Moderator. Das mediale und öffentliche Interesse an meiner Podiumsdiskussion war riesig. 

Die Weichen zur Gesetzesänderung waren plötzlich gestellt. Angestoßen durch meine Initiative erkannten schließlich nach und nach nicht nur einzelne Politier sondern alle damaligen 
Bundestagsfraktionen, dass der Weg zum BGH für mache Bürger offen stand und für andere - in gleichen Fällen - versperrt war. Rechtsexperten benutzten klare Worte, sie sprachen von "richterlicher Willkür" damit diese sich schnell von 
unbequemen Fällen entlasten könnten.
Alle Fraktionen waren sich nach anfänglicher Ablehnung am Ende im Deutschen Bundestag einig. Das Gesetz sollte geändert werden. 

Im Bundestag und im Rechtsausschuss wurde jetzt "nur" noch über die Art der Änderung gestritten. Der Fall meiner Tochter Deike bewegte den Deutschen Bundestag schließlich zu einer Korrektur des alten und ungerechten § 522 ZPO. 

Deikes Schicksal wurde in mehreren Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages und im Rechtsausschuss des Bundestages für die gravierende Fehlerhaftigkeit der Anwendung des alten Gesetzes herangezogen. Heute ermöglicht das geänderte Gesetz wenigstens anderen Bürgern mehr Gerechtigkeit in zivilen Berufungsverfahren, aber für Altfälle, wie den von Deike, sollte das neue Gesetz nicht greifen.

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Deikes Schicksal führte zu einer Gesetzesänderung 

Bundestags- Abgeordnete erwähnten im Gesetzgebungsverfahren immer wieder den Fall Deike, wie etwa Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) im Plenum des Deutschen Bundestages: „…Gerade gestern Abend konnte man in der ARD-Dokumentation Patient ohne Rechte am vielen von Ihnen sicherlich bekannten Schicksal der kleinen Deike nachvollziehen, dass die Anwendung des Beschlussverfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO tatsächlich manchmal zu Ergebnissen führt, die niemand von uns will. ... Berücksichtigt man zudem, welche gravierenden Auswirkungen die fehlsame oder sogar missbräuchliche Anwendung des Verfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO im Einzelfall haben kann – ich erinnere nochmals an das Schicksal der kleinen Deike –, dann kann man nicht anders, als festzustellen, dass die derzeitige Regelung angepasst werden muss…“ (Quelle: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 17/84). 

Der damalige parlamentarische Staatssekretär Max Stadler (FDP) im 
Bundesjustizministerium versicherte mir vorab in einem persönlichen Gespräch über die Hintergründe des neuen Gesetzes: „…In besonderen Fällen muss aus Gründen der Fairness immer mündlich verhandelt werden, wie etwa in Arzthaftungssachen…" (Anmerkung: So steht es heute auch in der Gesetzesbegründung).

Die frühere Bundes- Justiz- Ministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) erklärte am 25.01.2011 über eine Pressemeldung des BMJ: "...Das neue Gesetz sorgt für ein einheitliches Rechtsschutzniveau und beseitigt rechtsstaatliche Unwuchten im Berufungsverfahren...".

Der neue Paragraf 522 ZPO trat tatsächlich am 27.10.2011 in Kraft. 

Aus einer Rede im Deutschen Bundestag anlässlich der Verabschiedung des Gesetzes: (Abgeordneter Luczak, CDU) „…In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich der Familie Holweg ... für ihren unermüdlichen Einsatz für eine Änderung des § 522 ZPO danken. Sie haben gezeigt, dass auch einzelne Bürger in unserer Demokratie mit Engagement und der notwendigen Beharrlichkeit sehr viel in der Politik anstoßen und auch erreichen können. Vielen Dank dafür!..." (Quelle: Deutscher Bundestag Plenarprotokoll 17/120)

Einen so fehlerhaften Verlauf eines Gerichtsverfahrens wie im Fall Deike soll sich nach dem Willen des Gesetzgebers in Deutschland also nicht wiederholen. 

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Neues Gesetz hilft anderen, Deike aber nicht

Hätte Deike - so, wie durch uns beabsichtigt - im Jahr 2008 den Weg zum BGH gehen dürfen, dann hätte sie damals ein Grundsatzurteil herbeigeführt, so wie es ein Kläger acht Jahre später mit "Deikes" neuem Gesetz erreicht hat: 

Der Tenor seines Urteils aus dem Herbst 2016: „Wer Chefarztbehandlung vereinbart, darf nicht einfach von einem anderen Arzt operiert werden. Das stellt der Bundesgerichtshof (BGH) in dem Urteil (Az. VI ZR 75/15) klar. 

Doch bevor es zu diesem Urteil in 2016 kam (einen anderen Kläger betreffend) verneinten sowohl das bei ihm beteiligte LG als auch das OLG eine Haftung. Das OLG wies diesen Fall von grundsätzlicher Bedeutung ebenfalls per § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurück, nur eben nach der neuen Gesetzesversion. 

Im Gegensatz zu Deikes Fall, acht Jahre vorher (ihr Fall wurde nach § 522 ZPO, alt 
abgelehnt), konnte dieser Kläger den Weg der Nichtzulassungsbeschwerde gehen 
und somit vor dem BGH 2016 siegen. 

Deike durfte die Nichtzulassungs-Beschwerde mit dem alten Gesetz nicht erheben, ihr blieb der Zugang zum BGH bekanntlich dauerhaft versperrt. 

Nach dem Wortlaut der neuen Vorschrift und der Gesetzesbegründung darf heute namentlich in  Arzthaftungsachen der 522 ZPO Abs 2 nicht mehr angewendet  werden. 

Es freut uns natürlich sehr, dass ein Grundsatz-Urteil bezogen auf die nicht erbrachte Chefarztbehandlung Klarheit  für künftige Gerichtsverfahren bringt. Das bestätigt einmal mehr meine Rechtsauffassung. Diese rechtliche Klarheit  hätte Deutschland schon acht Jahre früher durch den Fall Deike haben können.

„Deikes“ neues Gesetz hilft vielen anderen geschädigten Patienten für die Zukunft. Deike selbst half auch dieses Urteil nicht, weil das neue Gesetz nur für die Zukunft greift. 

Politisch Verantwortliche zeigten im Plenum des Deutschen Bundestages auf, welche gravierenden Auswirkungen, die fehlsame und missbräuchliche Anwendung des alten § 522, Abs. 2 ZPO im Berufungs-Verfahren unserer Tochter Deike hatte. Folglich hätte Deutschland eine moralische Verpflichtung gehabt, im Fall Deike wenigstens symbolisch Verantwortung zu übernehmen, für die alte Gesetzgebung, die Unrecht anrichtete. 

Bis zu Deikes Tod  2023 blieb dieser Traum eben nur ein Traum.

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